Mindestlohn- Eine Innenbetrachtung (Gastbeitrag von Christoph O. P. Wieduwilt von 2008)

Friedrich-Schiller-Universität Jena
Rechtswissenschaftliche Fakultät
– Prof. Dr. Jacob Joussen –
07737 Jena

17.01.2008

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Joussen,
mein Name ist Christoph Wieduwilt und ich bin Geschäftsführer der Firma VARIS Dienstleistungs-GmbH Stadtroda. Die Firma VARIS beschäftigt zur Zeit ca. 440 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Hauptleistung mit ca. 75 % des Umsatzes ist Gebäudereinigung. Darüber hinaus sind wir in den Bereichen der Logistik und des Personalmanagements tätig.

Ich wende mich heute mit diesem Brief an Sie, weil Sie wohl der kompetenteste Ansprechpartner bezüglich Arbeitsrecht in meiner näheren Umgebung sind.

Um gleich Missverständnisse auszuräumen, ich brauche keine Rechtsberatung. Vielmehr suche ich (verzweifelt) nach einem Gesprächspartner zu dem rechtspolitischen Thema „Arbeitsrecht und Leistungsgesellschaft“.

Erlauben Sie mir, Ihnen einige Gedanken mitzuteilen, die mir seit ca. einem Jahr zunehmend Sorgen, um nicht zu sagen, schlaflose Nächte bereiten.

Dazu möchte ich 4 inhaltliche Komplexe ansprechen:

  1. Praktizierte Arbeitsrechtssprechung (völlig unabhängig vom Entsendegesetz)
  2. Die Anwendung des Entsendegesetzes auf bauferne Branchen
  3. Die skurrilen, absurden Auswirkungen bei der Anwendung des Entsendegesetzes auf andere Branchen
  4. Endbetrachtung und Erklärung

Zunächst bitte ich Sie um Verständnis, dass ich meine folgenden Äußerungen nicht mit konkreten Paragraphen untersetze, da sich meine Kenntnisse nach 18 Jahren und vielen Arbeitsrechtsstreitigkeiten auf die praktischen Erfahrungen der Rechtssprechung, hauptsächlich am Arbeitsgericht Jena, stützen.

Zu 1. Praktizierte Arbeitsrechtssprechung (völlig unabhängig vom Entsendegesetz)

Ich habe lernen dürfen, dass die Arbeitszeit, die eine gewerbliche Arbeitskraft leistet, auch zu vergüten ist. Bereits in diesem Satz ist schon der Ursprung meines gesamten Problems gelegt. Das Wort „leistet“ kommt wohl von Leistung und ist zunächst nicht mit Zeit gleichzusetzen.

Was meine ich:
Am Beispiel von Fliesbandarbeit wird es sehr deutlich. Der Arbeitgeber hat seine Arbeitskräfte täglich 8 Stunden am Fliesband sitzen und durch die Geschwindigkeit des Bandes stellt er sicher, dass in dieser Zeit (die er vergüten muss) auch eine entsprechende Leistung erbracht wird. Außerdem sind die Arbeitskräfte „an einem Ort“ und somit auch unter Kontrolle des Meisters oder eben eines Verantwortlichen.
Wie war es bisher (oder ist es auch noch) in der klassischen Gebäudereinigung? Dazu beispielhaft einige Gedanken:
Mein Firmensitz ist in Stadtroda. Einer meiner Kunden, ein mittelständisches Unternehmen, ist in Jena. Der Kunde bittet um ein Angebot, das die abgesprochene Leistung mit einem dazugehörigen Festpreis enthält. Nehmen wir an, es soll jeden Tag, also 5 mal pro Woche, sein Firmenhaus nach einem üblichen Leistungsverzeichnis gereinigt werden. Dazu gehören Flure, Treppenhäuser, Büros, Teeküchen und Toilettenanlagen. Mein Verkaufsleiter kalkuliert das Angebot nach Normen, die aus Erfahrung für alle Raumarten existieren. Also der Flur mit einer hohen Norm und die Sanitäreinrichtungen mit einer vergleichbar niedrigen Norm. Die Norm wird in einer Flächenleistung (m² pro Stunde) ausgedrückt.

Die Frage nach der Wahrheit, ist diese Norm schaffbar oder nicht, eine rechtliche Möglichkeit der Überprüfung usw. möchte ich hier (noch) nicht beantworten. Es kann der Ansatz der Problemlösung in einer notwendigen Arbeitsrechtsreform sein.

Unterstellen wir, die Norm ist erprobt, schaffbar oder nennen wir es lehrbuchmäßig akzeptabel. Dann entsteht rein rechnerisch eine bestimmte Zeit auf Grund der Flächengröße und der dazugehörigen Norm. Diese Zeit wird einerseits mit dem Stundensatz multipliziert um den Preis und andererseits mit dem Tariflohn multipliziert um den Lohn für diese Leistung, also den Leistungslohn, zu erhalten. Nehmen wir an, die Kalkulation ergibt für eine tägliche Reinigung 7 Stunden, dann kann ich bei diesem Kunden einer Arbeitskraft einen Arbeitsplatz mit 35 Wochenstunden (5 Tage mit je 7 Stunden) anbieten. Das passiert auch in der Form, dass neben dem eigentlichen Arbeitsvertragstext eine Objektübersicht mit den Angaben des Kunden, der wöchentlichen Arbeitszeit und dem daraus resultierenden Monatslohn (auf Tarifbasis) übergeben wird. Diese Objektübersicht ist Bestandteil des Arbeitsvertrages. Praktisch resultiert daraus, dass mein Kunde monatlich den selben Preis bezahlt und die Arbeitskraft monatlich denselben Lohn erhält (durch den Faktor 4,33 wurden die jahresdurchschnittlichen Monatstage berücksichtigt). Dadurch entstehen folgende Effekte, die gewollt und übrigens bis auf Ausnahmen auf ganz breite Akzeptanz bei den Arbeitnehmern führen:

  1. Das unternehmerische Risiko ist grundsätzlich begrenzt.
  2. Die durchschnittliche Arbeitskraft schafft die Arbeit in der vorgegebenen Zeit und damit stimmt das Verhältnis zwischen tatsächlich geleisteter Zeit und Tariflohn.
  3. Wetterabhängige Mehr- oder Minderarbeiten werden im Jahresdurchschnitt automatisch ausgeglichen.
  4. Die schnelle, clevere Arbeitskraft schafft die Arbeit in einer kürzeren Zeit und erbringt dadurch eine höhere Leistung. Sie bekommt aber nicht weniger Lohn, sondern den Tariflohn auf Kalkulationsbasis, der sich bei dieser Arbeitskraft in praktisch einem höheren Stundenlohn niederschlägt.
  5. Die Arbeitskraft, die objektiv oder subjektiv eine längere Zeit zur Bewältigung dieser Arbeitsmenge braucht, erbringt eine niedrigere Leistung. Sie bekommt aber auch nicht weniger Lohn, sondern den Tariflohn auf Kalkulationsbasis. Bezüglich der eingesetzten Zeit liegt der praktische Stundenlohn dadurch unter dem theoretischen Tariflohn.

Damit funktionierte (oder funktioniert?!) die Branche der Gebäudereinigung grundsätzlich.

Kommt es aber in Einzelfällen zu einem Arbeitsrechtsstreit über Arbeitszeiten (natürlich sicher nur bezüglich Punkt 5), dann hat diese aufgezeigte Form der Entlohnung keinen rechtlichen Bestand. Objektlohn (Stücklohn) wird in der Rechtsprechung nicht akzeptiert. Kann die Arbeitskraft beweisen, dass sie die längere Zeit gebraucht hat, dann muss diese Zeit der Arbeitgeber vergüten. Da diese Lohnforderungsstreitigkeiten in nur ganz wenigen Fällen, und dann meist nur im Zusammenhang mit Kündigungsschutzklagen auftreten, war dieses leistungsnegierende Problem in der deutschen Rechtssprechung von keiner großen Bedeutung.

Zu 2. Die Anwendung des Entsendegesetzes auf bauferne Branchen

Das Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AentG) wurde 1996 wirksam. Ausführungen über die Entstehungsgründe im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung erspare ich mir, da diese sicher hinreichend bekannt sind. Nun wurde das AentG speziell für die Baubranche geschrieben. Entsprechend bildeten sich bei den zuständigen Behörden der Zollverwaltung, die entsprechend § 2, Abs. 1 für die Kontrolle zur Einhaltung des Gesetzes zuständig sind, bestimmte Kontrollmechanismen und –formalitäten heraus. Insbesondere möchte ich hier auf den Arbeitszeitnachweis eingehen. Die Zollbehörden fordern pro Arbeitnehmer eine tägliche Arbeitszeitaufzeichnung mit Beginn, Ende, Pausen und Besonderheiten, die nicht älter als 48 Stunden sind. Das führte damals in der Baubranche nicht zu besonderen Turbulenzen. Es gibt 2 wesentliche Grüne, warum das in der Baubranche nicht das Hauptproblem war:

  1. In der Baubranche ist ein so genanntes Bautagebuch üblich bzw. sogar zwingend. Das Bautagebuch erfüllt mehrere Aufgaben:
    • Nachweis des technologischen Ablaufs und damit gewerkeübergreifende Aufklärung bei Qualitätsproblemen
    • Nachweis, der auf der Baustelle tätigen Mitarbeiter, was besonders im Havariefalle auf Großbaustellen von Sicherheitsbedeutung ist
    • Es dient gleichzeitig dem Arbeitszeitnachweis der Mitarbeiter zur Pflege des üblichen Jahresarbeitszeitkontos.
  2. Die Durchsetzung von Leistung während der Arbeitszeit wird durch anwesendes Aufsichtspersonal gesichert. Bei kleineren Baufirmen der Chef selbst, bei größeren oder großen Baufirmen oder Baustellen sind Poliere, Meister oder sogar mehrere Bauleiter vor Ort.

Wie läuft nun der Alltag mit über 440 Beschäftigten in der Gebäudereinigungsbranche, speziell bei der Firma VARIS, ab?

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden von 2 Bürostandorten, 2 logistischen Leitern, 4 Vorarbeitern und 1 Materialdispatcher sozusagen gesteuert. Das Herzstück, was ein Funktionieren überhaupt ermöglicht, ist die eigenständige Arbeit der gewerblichen Arbeitnehmer. Von Magdeburg bis zur Landesgrenze zu Bayern, von Erfurt bis Altenburg, über diese Fläche verteilen sich die zu betreuenden Kunden unserer Firma. Ich kann nun jeden belieben Ort auswählen, wo wir einen Kundenstandort haben und möchte mich auf ein Beispiel beschränken. Wir reinigen in Eisenberg ein Autohaus. Dafür haben wir eine Arbeitskraft aus Eisenberg angeworben. Diese Arbeitskraft hat einen Arbeitsvertrag mit der bereits weiter oben erwähnten Objektübersicht, auf der der Kunde „Autohaus“, die wöchentliche Arbeitszeit und der Monatslohn vermerkt ist. Nach der Einarbeitung durch den Vorarbeiter betreut diese Arbeitskraft das Kundenobjekt in persönlicher Verantwortung. Maximal 1 mal im Monat besucht der Materialdispatcher das Kundenobjekt, liefert Materialien oder tauscht Arbeitsmittel aus und trifft dann häufig nicht einmal unsere Arbeitskraft an. Der zuständige Vorarbeiter kontaktiert das Kundenobjekt bzw. die Arbeitskraft maximal 1 mal im Monat, manchmal seltener. Dabei geht es um eine routinemäßige Qualitätskontrolle, um alltägliche Absprachen, wie Urlaubsplanung u.ä. und um den Kundenkontakt an sich. Mehr Kontakt ist deshalb nicht notwendig, da die Arbeitskraft in Ausführung einer qualifizierten Arbeit und in dem notwendig persönlichen Verhältnis zum Kunden den Vertrag erfolgreich selbst mit Leben erfüllt.

Ich denke, diese Beschreibung reicht aus, um sich ein Bild über die Praxis dieser Branche zu machen.

Nun wird seit 01.07.2007 in der Gebäudereinigungsbranche das AentG mit den gewohnten Baubranchen-Kontrollmechanismen durch die Zollbehörden wirksam. 440 Arbeitskräfte von Sachsen-Anhalt bis Bayern, von Thüringen bis Sachsen und die meisten arbeiten alleine oder in kleinen Teams eigenverantwortlich ohne direkten Kontakt zu ihrer Firma VARIS. Stellen Sie sich nun die Forderung des Zolls im Zusammenhang mit dem Arbeitszeitnachweis, der nicht älter als 48 Stunden sein darf, vor. Was hat das ausgelöst: Die Innungen einer ganzen Branche, jedes Firmenmanagement und die Zollbehörden ringen nach Interpretationslösungen, es werden Empfehlungen gegeben, die der Zoll möglicherweise akzeptiert (möglicherweise aber auch nicht) und es werden auf breiter Front verschärfte Formulierungen in Arbeitsverträgen eingearbeitet. Es wird nunmehr zugestimmt, das die Arbeitszeitnachweise bei immer wiederkehrenden Arbeiten pc-gestützt für den laufenden Monat vorgefertigt werden dürfen, aber Veränderungen sind mindestens durch die Arbeitskraft (oder in ihrer Vertretung durch den Vorarbeiter) handschriftlich einzuarbeiten. Ohne vom wirklichen Problem abzulenken, möchte ich nebenbei nur erwähnen, dass durch das AentG bei 440 Mitarbeitern, die durchschnittlich 2 Objekte betreuen, pro Monat ca. 880 Blatt Papier zusätzlich produziert werden.

Von den Innungen wird empfohlen in die Arbeitsverträge Formulierungen einzuarbeiten, wie z.B.:

„… Diese Arbeitsstunden sind vertraglich vereinbart und dürfen nicht überschritten werden. Jede Mehrarbeit ……ist nur auf ausdrückliche Anweisung des Arbeitgebers …. zulässig. Selbstverschaffte Mehrarbeit ….. sowie eigenmächtige Pausen und Arbeitsverzögerungen z.B. durch Bummelei werden ausdrücklich von uns nicht geduldet und bei Verstößen geahndet. Ferner besteht arbeitsrechtlich kein Anspruch auf Vergütung, da diese unzulässigen Überschreitungen der vertraglichen Vereinbarungen arbeitsrechtlich nicht als Arbeitszeit gelten.“

Was sagen uns diese Bemühungen auf breiter Front? Das AentG ist nicht in dieser Form auf alle Branchen anwendbar. Ungezählte intelligente Menschen formulieren ein Gesetz und bringen es durch Beschluss zur Anwendung. In diesem Moment werden wieder ungezählte, intelligente Menschen aktiv um bei Strafe des Unterganges einer ganzen Branche Auslegungsmodalitäten zu erfinden, damit das Gesetz erlebbar wird. Das erschütternde ist aber, dass, neben einer Bürokratieflut, keiner ernsthaft wahrhaben will, dass im Hintergrund die Gesetze des Marktes trotzdem greifen. Ich will sagen, dass hinter der angeblich gesetzeskonformen Spiegelfechterei natürlich weiterhin Leistungslohn erzwungen, durch strikte Vorgaben von einem festen Zeitrahmen Leistung und nicht nur Anwesenheit von den Arbeitskräften abgefordert wird – werden muss. Das kann auch nicht anders sein.

Die von den Zollbehörden in der ersten Lesung geforderten Arbeitszeitaufzeichnungen durch die Arbeitskräfte selbst vor Ort hätte 2 Auswirkungen, eine theoretische und eine praktische – zunächst die theoretische Auswirkung: Die „langsamen“ Arbeitskräfte würden „ihre“ Zeit aufschreiben und dafür (viel) Lohn erhalten. Die oben erwähnten „cleveren, schnellen“ Arbeitskräfte würden mit „ihren“ Zeitaufzeichnungen mächtig bestraft, denn sie bekämen trotz höherer Leistung für die gleiche Arbeit viel weniger Lohn, als ihre „langsameren“ Kollegen. Nun die praktischen Auswirkungen: Da es sich, wie geschrieben, um clevere Arbeitskräfte handelt, brauchen diese nach kürzester Zeit natürlich noch viel länger für die gleiche Arbeit, als ihre „langsamen“ Kollegen, denn, sie haben gemerkt, dass dadurch viel besser und sehr einfach Geld zu verdienen ist.

Im übrigen werden die verschärften „Arbeitsrechts“-Formulierungen zur Einhaltung der vorgegebenen Arbeitszeit auch nicht vor dem Arbeitsgericht beständiger, da es ja nun mal eine andere Rechtssprechung gibt. Soweit zu den Auswirkungen des AentG auf baufremde Branchen, im dargestellten Falle die bereits betroffene Gebäudereinigungsbranche.

Zu 3. Die skurrilen, absurden Auswirkungen bei der Anwendung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen

Zunächst ist es Zeit, nüchtern zu erfassen, warum das AentG nicht so einfach branchenübergreifend funktionieren kann. Zur erfolgreichen Umsetzung sind mindestens 2 Voraussetzungen unabdingbar, um einerseits dem Ziel des Gesetzes gerecht zu werden und andererseits grundsätzliche Marktgesetze nicht auszuhebeln (was durch politische Vorgaben sowieso nicht möglich ist).

  1. Voraussetzung:
    Für die betreffenden Arbeitskräfte muss es festgelegte Arbeitszeiten geben. Das ist auf dem Bau insofern gegeben, da es sich hier in der Regel um Ganztags-Jobs handelt (im Sommer darfs sogar noch etwas mehr sein). Ebenfalls könnte es überall dort funktionieren, wo durch objektive Kriterien der Beginn und das Ende der Arbeitszeit definiert ist. Hier ist an Produktionseinrichtungen zu denken, wo zu einer bestimmten Zeit das Licht und die Maschinen angeschaltet und nach einer bestimmten Zeit wieder ausgeschaltet werden. Ebenfalls sind Unternehmen mit festgelegten Öffnungszeiten in diesem Regime denkbar.
  2. Voraussetzung:
    Die Arbeitskräfte müssen disziplinarisch unter einem Zwang stehen, Leistung zu bringen. Das klingt zunächst viel härter, als es ist. Die Geschwindigkeit des Fliesbandes ist zum Beispiel die Leistungsvorgabe für die daran beschäftigten Mitarbeiter. Der Polier, der Meister oder der Bauleiter auf der Baustelle ist verantwortlich für die Einhaltung der Pausen, für einen sinnvollen, technologischen Ablauf und er beobachtet natürlich auch die Arbeitskräfte und kann disziplinarische Hinweise geben, sollten subjektive Minderleistungen erkennbar werden.

Beide Voraussetzungen sind in der Gebäudereinigung (und weiteren Branchen) nicht gegeben. Viele Arbeitskräfte in meiner Firma arbeiten an 3 Tagen in der Woche beispielsweise 4 Stunden. Für diese Arbeitskräfte ist es also kein Problem auch 5 Stunden zu arbeiten, um mehr Geld zu verdienen. Das ist um so leichter möglich, da in den meisten Fällen ein ausreichendes Arbeitszeitfenster von den zu betreuenden Kunden zur Verfügung gestellt wird. Die Arbeitskräfte entscheiden demzufolge selbst über ihre Einsatzzeiten in einem bestimmten Rahmen. Genau diese eigenverantwortliche Freiheit ist ein wesentliches Kriterium der positiven Motivation der Arbeitskräfte und ich kann von meinem liberalen Verständnis her einer diesbezüglichen Einschränkung kein Vorteil abringen. Die 2. Voraussetzung, die disziplinarische Kontrolle, ist ebenfalls nicht gegeben und dafür besteht außerhalb des AentG auch überhaupt kein Grund. Auch diese Freiheit der Arbeitskraft durch qualitativ hochwertige Arbeit und ordentlichem Kundenumgang sich ihren Arbeitsplatz selbst zu sichern, ist ein wesentliches Motivationskriterium in unserer Branche.

Nun mein Lieblingsbeispiel, wenn das AentG auf die Branche der Zeitungsverteiler angewendet werden sollte:

In einem Dorf mit 600 Einwohnern wohnt Herr T. mit seinem Hund Max. Herr T. hat Probleme mit seinen Knien und ist Diabetiker. Sein Arzt und sein Hund Max empfehlen ihm, möglichst viel Bewegung an frischer Luft. So ist es nur passend, dass der Vertrieb einer bekannten Tageszeitung auf Herrn T. zuging und ihn fragte, ob er nicht täglich (Montag bis Sonnabend) am Morgen die 100 Zeitungen in seinem Dorf verteilen möchte. Herr T. war erfreut über das Angebot und stimmte zu. Für diese Leistung bezahlt der Vertrieb Herrn T. ein pauschales Entgelt von 110,00 Euro im Monat. Der Lohn wurde kalkuliert unter dem Gesichtspunkt der Zeitungsanzahl und der geografischen Gegebenheiten im Dorfe. Man könnte auch rechnen: Eine knappe Stunde und das 6 Tage in der Woche für 5,00 Euro in der Stunde.

Warum hat dieser Status quo schon mehrere Jahre Bestand?

Herr T. braucht 1 Stunde und 20 Minuten für das Austragen der Zeitung. Er rechnet nicht zurück, weil er sich bewusst ist, dass er auf Grund seiner Gelenkprobleme in den Beinen etwas langsamer gehen muss. Er und sein Hund Max erfreuen sich an der täglichen Bewegung an frischer Luft und an der sehr pünktlichen Bezahlung der Zeitungsvertriebsfirma. Herr T. ist zufrieden mit dem Job. Die Vertriebsfirma der Tageszeitung hat den Lohn gut kalkuliert und einen sehr zuverlässigen Zeitungszusteller in dem besagten Dorf. Die Tageszeitung bekommt eine positive Resonanz von ihren Abonnenten wegen der pünktlichen Zustellung. Die Vertriebsfirma ist demzufolge auch zufrieden.

Selbst wenn Herr T., er war bis zu seiner Erkrankung praktizierender Rechtsanwalt, die Rechtsituation genau kennt, macht er gegenüber der Vertriebsfirma keine Forderung auf. Das hat 2 Gründe: Erstens weiß Herr T., dass sein realer Stundenlohn deshalb unter 5 Euro liegt, weil er mit der leichten Behinderung etwas langsamer gehen muss und zweitens weiß Herr T. auch, dass eine rechtliche Durchsetzung seiner (nach derzeitiger Rechtssprechung legitimen) Forderung dazu führt, dass er den Job verliert und ein „schnellerer“ Dorfbewohner für diesen Job gewonnen wird. Es ist also der klassische Fall von Individualrecht in einer „zufriedenen Welt“.

Angenommen unsere Politiker beschließen, dass die Zeitungszusteller einem gesetzlichen Mindestlohn unterworfen werden und das AentG Anwendung finden soll. Was passiert dann?!

Es werden tägliche Arbeitszeitaufzeichnungen gefordert, auch von Herrn T.. Spätestens hier wird ersichtlich, dass deutlich über eine Stunde Arbeitszeit anfällt. Selbst wenn es noch zu einer „individuellen Arbeitszeitnivellierung“ seitens der Vertriebsfirma mit Duldung von Herrn T. kommt, beginnt hier bereits eine Unkorrektheit zur Erhaltung des so richtigen und sinnvollen Status quo. Eines Morgens fährt in das Dorf ein grünes Auto mit der Aufschrift „Zoll“. Es hält vor Herrn T., der gerade dabei ist die Zeitungen auszutragen. Aus dem Auto steigen 2 uniformierte, bewaffnete Beamte und beginnen eine verdachtsunabhängige Befragung von Herrn T. in ihrer Funktion, die Einhaltung des Entsendegesetzes zu kontrollieren. Neben vielen anderen Fragen wird Herr T. gefragt, wie lange er denn jeden Morgen unterwegs ist, die Zeitungen zu verteilen. Als christlicher Bürger mit Rechtskenntnis hält Herr T. nichts von relativen Wahrheiten, noch würde er gar schwindeln. Er gibt also an, dass er jeden Morgen mit den Zeitungen und seinem Hund Max ca. 1 Stunde und 20 Minuten unterwegs ist. Die Beamten des Zolls bedanken sich und verlassen mit ihrem grünen Auto das Dorf und Herr T. verteilt seine restlichen 34 Zeitungen.

Am nächsten Morgen klopfen die gerade beschriebenen Zollbeamten an die Tür der Vertriebsfirma, also dem Arbeitgeber von Herrn T.. Der Geschäftsführer, Herr Pech muss nun alle Daten offen legen, die im Zusammenhang mit Herrn T. und seinen Aussagen relevant sind. Die Beamten sehen die Lohnzahlungen in Höhe von 110,00 Euro pro Monat und vergleichen das mit den Aussagen von Herrn T.. Angenommen der Mindestlohn von 5,00 Euro wäre gesetzlich festgeschrieben, dann hätte Herr T. nach eigenen Angaben (die ja auch völlig korrekt sind!) Anspruch auf ca. 170,00 Euro (1,33 Stunden * 6 Tage * 4,33 Wochen * 5,00 Euro/Stunde).

Nun beginnt das (politisch gewollte?) Theater erst richtig. Herr Pech bekommt eine Hochrechnung rückwirkend über mehrere Jahre, was an Sozialbeiträgen fällig gewesen wäre, wenn die Firma den gesetzlichen Mindestlohn und damit pro Monat 60 Euro mehr gezahlt hätte. Diese Beiträge sind nachzuentrichten. Wegen Verletzung des Entsendegesetzes wird ein Busgeldverfahren eingeleitet in dessen Ergebnis ein Bußgeld von 10.000,00 Euro zu zahlen ist. Die Möglichkeit einer Strafanzeige wegen Lohnwucher (§ 291 StGB) oder Leistungsbetrug (§ 263 StGB) wird noch geprüft…….Tja, Pech gehabt Herr Pech!

Die Vertriebsfirma überlebt ökonomisch diesen Crash, Herr Pech wurde von der Gesellschaft von seinen Aufgaben entbunden und ist auf Arbeitssuche.

Was macht nun der neue Geschäftsführer der Vertriebsfirma? Den höheren Lohn in Höhe von 170,00 Euro pro Monat zahlen? Nein! Das ist ausgeschlossen, der neue Geschäftsführer ist nach dem GmbH-Gesetz (übrigens genauso, wie sein Vorgänger) verpflichtet, als ordentlicher Kaufmann zu handeln. Und 170,00 Euro pro Monat macht das Geschäft unrentabel. Er würde rote Zahlen schreiben.

Eine andere Lösung ist zu finden. Na? Sie ahnen es? Ja, genau, Herr T. bekommt die Kündigung und muss ab sofort seine morgendliche Runde auf dringenden Rat seines Arztes nur noch mit Hund Max und ohne Zeitungen absolvieren. Ihm fehlen auch 110,00 Euro monatlich in seiner Geldbörse….. aber wen interessiert das schon.

Ein Student der Geld braucht, wohnt noch bei Muttern in eben diesem Dorf. Er liest den Aushang der Vertriebsfirma und bewirbt sich. Auf die Frage, ob er denn früh vor dem Studium zeitlich zurecht kommt, alle Zeitungen auszutragen, antwortet er mit „ja“, er ist schließlich begeisterter Radfahrer und „ganz fix damit rum“. Der Studiosus wird eingestellt und erhält monatlich eine Vergütung für das Austragen der Zeitung in Höhe von 100,00 Euro (0,75 Stunden * 6 Tage * 4,33 Wochen * 5,00 Euro/Std). Die Vertriebsfirma ist ja mit einem mal so etwas von vorbildlich, weil gesetzeskonform, sie zahlt den gesetzlichen Mindestlohn, hat 10,00 Euro pro Monat gespart und der Studiosus ist auch zufrieden, an Herrn T. denkt sicher schon niemand mehr. Möge die Vertriebsfirma Glück haben und der Student bildet sich in Physik, denn würde er Jura studieren, spätestens im Arbeitsrechtssemester tauscht der Studiosus sein Fahrrad gegen einen Hund und braucht 1,5 Stunden für die Verteilung der Zeitungen……

Zu 4. Endbetrachtung und Erklärung

Das aufgeführte Beispiel verdeutlicht sicher zur Genüge, welches Grundsatzproblem entsteht, wenn ein (schon sehr zweifelhaftes) Individualrecht bis hin zum Strafrecht durch die Gesetzeslage des AentG ausgeweitet wird.

Nun würde ich meiner liberalen Haltung untreu, wenn ich nicht auch den Blickwinkel der Arbeitnehmer beleuchte. Natürlich kann es nicht sein, um bei der Gebäudereinigungsbranche zu bleiben, dass der Marktdruck, den die Branche sich übrigens selbst schafft, dazu führt, die praxisnahe Kalkulationsbasis zu verlassen, um Arbeitsmengen in Zeiteinheiten abzufordern, die menschlich einfach nicht machbar sind. Im 1. Punkt habe ich in einer Überlegung dieses Thema schon angerissen. Ich halte es für zwingend notwendig, eine Fachdiskussion in den Bereichen Wissenschaftlicher Arbeitsorganisation, Arbeitsrecht und Politik zu beginnen und zu führen. Unter der Überschrift „Arbeitsrecht und Leistungsgesellschaft“ sind Lösungen zu finden, die einerseits menschenwürdige Arbeit unter Abforderung von Leistung und andererseits kaufmännische Vernunft sichern. Das bestehende Recht kann aus meiner Sicht in dieser Form kein Bestand haben, da das Handeln als ordentlicher Kaufmann und das gleichzeitige Einhalten gesetzlicher Vorschriften sich ausschließen. Mit diesem Aufsatz erkläre ich mich ausdrücklich bereit, an dieser Fachdiskussion teilzunehmen, sollte die Politik überhaupt ein Interesse an diesem Thema haben.

Da ich diesen Brief als öffentlichen Brief verstehe, möchte ich 2 Erklärungen abgeben:

  1. Ich unterstütze die politische Forderung nach auskömmlichen Einkommen für alle Arbeitnehmer. Der aufmerksame Leser wird feststellen, dass ich in keinem Abschnitt dieses Schriftsatzes eine auskömmliche Leistungsbezahlung in Frage gestellt habe.
  2. Ich respektiere in vollem Umfang die Arbeit der Kontrollbehörden, insbesondere des Zolls, zur Durchsetzung der Gesetze. Es gibt meinerseits keine Kritik an der Arbeit dieser Behörden, es gebührt ihnen im Gegenteil Respekt, da es eine Gratwanderung ist, mit dem richtigen Augenmaß die Umsetzung eines Gesetzes zu kontrollieren, das eigentlich dazu angetan ist, eine ganze Branche zu vernichten.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Joussen,

ich hoffe, ich habe mit meinen Ausführungen Ihre Zeit nicht übergebührend in Anspruch genommen. Gleichfalls hoffe ich, mit dem Inhalt einen Einstieg gefunden zu haben, der Sie anregt, in einem persönlichen Gespräch den einen oder anderen Fakt zu vertiefen. Wichtig wäre für mich ein Feedback, um zu erkennen, ob nicht vielleicht in meinen Überlegungen Fehler existieren.

Ich erlaube mir, in den nächsten Tagen einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.

Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gut Zeit und verbleibe mit freundlichen Grüßen

Christoph O. P. Wieduwilt

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Eine Antwort zu Mindestlohn- Eine Innenbetrachtung (Gastbeitrag von Christoph O. P. Wieduwilt von 2008)

  1. St. Blasii schreibt:

    Ein interessanter Beitrag über die praktische Anwendung des Mindestlohn mit der Abbildung der gesamten Skurrilität des Themas und den gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die sich daraus ergeben.

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